Mensch ärgere Dich

Freitagvormittag 10.16 Uhr. Im Frühstückscafé von Mehlwurms Backparadiso ist jeder Platz besetzt. Rentner aller Altersklassen, total gestreßte Hausfrauen, Alt-Kegelklubs und andere Wohllebenskünstler thronen gruppenweise eng beisammen an langen Tafeln und haben ihre liebe Mühe, all die Teller und Platten voll deutscher Köstlichkeiten zwischen Kannen, Kännchen und Näpfchen herumzureichen.

„Kann ich mal die Wurst haben?“ – „Aber selbstverständlich, junge Frau: Hier…“ – „Otto, Du hast den Daumen in der Sülze!“ „Na und? I c h will sie ja nicht essen, hähähää!“

Man ist voll Heiterkeit und nett zu einander. Genuß erzeugt Frohsinn.

Auch wir sind heute dabei. Günnis bezaubernde Gattin Gisela feiert ihren Geburtstag und hat Verwandte und Freunde zu einem ausgiebigen Frühstück gebeten. (Die Zeche zahlt Günni später – klaglos.)

„Na, meine Gute…“ fragt eine beste Freundin vernehmlich quer über die Tafel, „…schon wieder ein Jahr geschafft? Und – ärgerst Du dich sehr??“ Als Frau weiß man sofort: Dies ist ein boshafter Nadelstich. Er muß gleich pariert werden: „Nö – wieso sollte ich? Wir werden doch alle älter. Das sieht man ja an Dir!“ Der Konter sitzt. Sofortiger Waffenstillstand. „Kann ich mal ´n Körnerbrötchen… Und den Honig bitte?“

Bald sind die Kannen leer. „Frollein, wir brauchen noch Kaffee. Und wir hatten doch vorhin Rührei bestellt!“ „Kommt sofort, die Herrschaften!“

Der Kaffee kommt. Das Rührei nicht. Leichter Unmut hier und da. Das dauere ja ganz schön lange heute. Kämen wohl nicht nach bei der vollen Hütte. „Dann müssen sie eben mehr Personal einstellen!“
Naja – nicht ärgern. Man ist schließlich eingeladen.

Günni neben mir belegt gerade eine enorme Brötchenhälfte flächendeckend mit Lachs. Er angelt nach dem Meerrettich, da meldet sich sein Handy. Brötchen vorsichtig ablegen – Meerrettichschälchen zurückstellen: „Hallo – Günni hier! Tach! Was kann ich für Sie…/ Blablabla/Moment, das war doch alles schon klar/ja/jaja/nein/wieso/nein/ja natürlich/ja/aber/nein, da müssen Sie doch nur/wann?/im Moment nicht/ich melde mich/heute nachmittag/ja/wiederhören… Scheiße!“ Sein ebenmäßiges Antlitz hat sich mit einer zarten Röte überzogen.

Ein fragender Blick aus Freundesaugen. „Firma Angst und Bange. Kommen mit ihrer neuen Software immer noch nicht zurande. Dreimal hab´ich denen alles verklickert. Wie man so dämlich sein kann…!“ „Nun reg´dich mal nicht auf.“ „Ach naja – über so viel Dummheit könnte ich verrückt werden“ „Später. Iss erst dein Brötchen!“

Das Rührei ist noch immer nicht da. „Frollein!!“ „Ist in Arbeit. Kommt sofort!“ Der Chronist vermerkt: Am Tisch leiser Groll.

Und dann kommt es tatsächlich noch. Goldgelb und mit frischem Schnittlauch aus der Tiefkühle üppig garniert. „Guten Appetit allerseits!“ Na endlich…

„Ringring dideldumdei!“ Diesmal ist es mein sonst so schweigsames Handy. Wer will denn ausgerechnet jetzt von mir was? „Ja hallo, Wagenseyl. Wer ist da? Tante Berta? Bist Du das? Ich versteh´dich so schlecht. Ja. Nein. Warte mal…“ (Erbtante Berta aus der ersten Kolumne, Sie erinnern sich vielleicht). Sie müsse, schreit sie in den Apparat, unbedingt  s o f o r t  mit mir reden. Nein, sie sei nicht krank. Oder doch: Vor Ärger! Milbenkot! „Was bitte?“ Jawohl: Mil-ben-kot!! 2.000,– Euro! Ein Mann bei ihr im Schlafzimmer. Nicht, was ich dächte. Matratzenreinigung… Kostenlos!

„Tante Berta – mein Akku… Können wir nicht…“

Unverschämtheit! Matratze voller Mil-ben-kot! Igitt! Schon das Wort allein! Stinksauer…kein Schlaf…schon fast totgeärgert…Idiot…Rechtsanwalt…!

Sie ist die Erbtante. Sie darf sich nicht aufregen. Es könnte sie der Schlag treffen. Obwohl – andererseits…
Na na, hinweg mit den verwerflichen Gedanken!

„Liebstes Tantchen!“ (Das hört sie immer gern.) „Eine Riesensauerei, was?“ Allerdings sei es im Moment leider ein bißchen ungünstig. Wir säßen mit Freunden beim Frühstück, und die Verständigung sei schlecht. Ob wir vielleicht später in aller Ruhe…? Wir tränken hier doch gerade Kaffee…  „Siehste – mein Kaffee schmeckt mir auch nicht mehr!“ Nur noch Baldriantee tränke man! Weil man sich so ärgere!!

(Die Posaunen von Jericho sind ein Harfengesäusel gegen diese Stimme.)

Endlich die Einigung auf heute nachmittag. Lieselotte, meine unübertreffliche Gattin, befürchtet allerdings: „Die ruft doch wieder genau in der Mittagszeit an.“ Und ihr Einwand ist begründet. Alle Welt weiß, daß zwischen 13.00 und 15.00 Uhr unsere heilige Zeit ist, in der wir erst ein Stündchen schlafen und dann die Endlos-Schleife „Rote Rosen“ im Fernsehen verfolgen, bei einer Tasse Tee und etwas Gebäck. Wenn uns in dieser Weihestunde jemand zu stören wagt, kann es nur ein Werbefritze sein oder Tante Berta. Der eine weiß es nicht besser und wird sofort abgeschmettert. Die andere kümmert sich nicht darum, aber man muß sie trotzdem liebevoll behandeln, aus guten Gründen halt. Ärgern tun wir uns in beiden Fällen.

Das Rührei ist inzwischen kalt. Aber immerhin kriege ich noch was ab – etwas fest und heftig gesalzen.
Natürlich kein Grund zum Verdruß. Es wird noch öfter Geburtstag sein.

„Das mit dem Telefon ist sowieso so´ne Sache.“ Mein Gegenüber schaltet sich ein. „Was mich immer aufregt;
Wenn einer sich nicht mit Namen meldet. Die heißen heute alle Hallo oder Ja bitte. Weshalb sagen die nicht ihren Namen? Denen könnte ich jedesmal ihren eigenen Hörer auf´n Kopp…!“ „Hermann! Also wirklich …!!“
Hermann duckt sich und schweigt gehorsam.

Sein Nachbar: „Oder wenn man irgendwo anruft und keiner weiß Bescheid. Heutzutage weiß überhaupt keiner mehr Bescheid. Dann heißt es: Der Kollege ist leider außer Haus. Kann er zurückrufen? Klar kann er das. Wenn er´s man täte! Ich sitze den ganzen Tag zu Hause und warte auf den Rückruf. In einem Fall schon seit zwei Jahren…“

„Hahaha – Witzbold!“

„Nix Witzbold! Du lachst – aber ich ärgere mich!“

„Genau! Oder diese Handwerker. Morgen früh um acht sind sie angeblich da. Ja – von wegen! Um elf wartet man immer noch. Also muß man selber wieder anrufen. Jaaa, die sind noch beim Kunden. Bin ich etwa kein Kunde? Jeder hat heute ´n Handy. Können die einem nicht mal Bescheid sagen? Was habe ich mich da schon aufgeregt…“

Jetzt ist die Runde richtig in der Spur. Zum Thema „Ärger“ weiß jeder was.

Die andere Ecke meldet sich: „Überhaupt! Die Leute sind heute sowas von rücksichtslos! Am schlimmsten sind die Autofahrer!“

„Die Radfahrer aber auch!“

„Aber diese Drängelei auf der Autobahn… Wie wir vorhin hergekommen sind, hat hinter uns einer gedrängelt – ich dachte, der sitzt uns auf der Stoßstange. Ich hatte vielleicht 190 drauf, aber der wollte noch vorbei. Und wenn du dich ärgerst, lachen sie dir noch frech ins Gesicht…“ (Wohin sonst)

„Jau – und das sind dann die gleichen Schwachköppe, die ihre alten Reifen in den Wald schmeißen!“

Elfie: „Ich ärgere mich am meisten über die rücksichtslosen Radfahrer. In der Fußgängerzone, oder beim Einkaufs-shopping immer -zack!- an einem vorbei. Von hinten! ´Ne Klingel kennen die gar nicht mehr…“

So plätschert die Unterhaltung munter fort. Längst nicht alle Wortmeldungen sind hier aufgeführt, aber fest steht:

Zum Thema „Klo“ (heute wegen des Geburtstages nicht näher behandelt) und zum Thema „Ärger“ kann  jeder aus seinem Alltagsleben etwas beisteuern. Vom gestohlenen Portemonnaie bis zu zum verlorenen Hausschlüssel, von der Beule im Auto bis zur Steuernachzahlung, vom Graffiti bis zum umgestürzten Rotweinglas gibt es tausend gute Gründe, sich zu ärgern. Dabei spricht die Wissenschaft gern vom „Kollektiv-Verdruß“ (verlorenes WM-Endspiel) und vom „Individual-Verdruß“ (Eintreten in Hundekot). Entscheidend ist letztlich die Frage: W e r  ärgert sich? Ist es der Nachbar, so kann ich mir ein bißchen Schadenfreude nicht immer ganz verkneifen, spende aber bereitwillig Trost. Bin ich selbst betroffen, so will ich von „Nun reg´ dich doch nicht auf…Ist doch alles halb so schlimm!“ nichts wissen. Für mich  i s t  es schlimm! Und ich w i l l  mich aufregen! Laßt mich doch! Ich bringe schon keinen um. Aber der Ärger muß raus! Sonst qualmt die Hütte womöglich tagelang weiter. Irgendwann hat der Rauch sich verzogen, dann ist ja alles wieder sauber.

Allerdings keineswegs milbenfrei:

Freitagmittag 13.35 Uhr. Tante Berta meldet sich über Festnetz. Ein Entkommen ist unmöglich. „Na – habt Ihr wieder schön rumgeschlemmt? Und ich sitze hier einsam und muß mich grün und blau ärgern? Naja…“

„Aber liebstes Tantchen! Nun erzähle mal der Reihe nach: Was ist denn passiert?“

(Hier nun empfiehlt es sich im Sinne der verehrten Leserschaft, die etwa halbstündige Schilderung einer elementaren Katastrophe ein wenig zu straffen und inhaltlich zu sortieren.)

Also:

Vor ein paar Tagen rief bei Tante Berta eine nette Dame an, die einen medizinisch klingenden Institutsnamen nannte und anfragte, ob Tantchen denn vielleicht zwei Minuten Zeit erübrigen könne, um ein paar ganz wichtige Fragen zu beantworten. Da Tante Berta –wie üblich– eigentlich nichts zu tun hatte, gab sie der freundlichen Stimme bereitwillig und wahrheitsgemäß Auskunft: Ob sie Allergikerin sei oder Diabetikerin oder anderweitig schwer leidend, wo sie denn ihr Mineralwasser kaufe, wie alt sie sei usw. Vielen Dank! Sie haben uns sehr geholfen! Die Dame war wirklich sympathisch.

Darum freute Tantchen sich, als dieselbe Stimme sich zwei Tage später wiederum meldete und ihr als Dank für ihre Auskunftsbereitschaft einen „Gewinn“ ankündigte, nämlich die kostenlose Reinigung ihrer Matratze. Es käme ein freundlicher Herr vorbei, der das prompt für sie erledige. Ob sie dann und dann zu Hause sei?

Tante Berta, in Gelddingen unerbittlich, freute sich ganz besonders über das Wort „kostenlos“.
Der Mann kam pünktlich, die Matratze war vorbereitend abgedeckt, der Mann sprühte etwas drauf, deckte eine geheimnisvolle Folie drüber, nahm sie wieder ab, erzeugte dadurch eine seltsame Pampe und verkündete stirnrunzend, es handele sich hier leider eindeutig um Milben, genauer: um ihren Kot. Das käme von den Körpersäften. Und wohl nie eine Grundreinigung machen lassen, was?! Jedenfalls – Tantchens Liegestatt sei ein einziger Seuchenherd, sozusagen versifft von Milbenscheiße. Da helfe nur eins: Eine neue Matratze müsse her, und zwar sofort! Zum Vorzugspreis von nur € 1.850,–. Sie könne die Bestellung gleich hier unterschreiben.

Die Wirkung muß verheerend gewesen sein. Es gelang der Tante gerade noch, den nichtswürdigen Verbrecher unter Androhung von Gewalt rauszuschmeißen. Dann brach sie zusammen.

Daß man auf diese hinterhältige Weise versuchte, ihr ein völlig überteuertes Produkt anzudrehen, war nicht das Schlimmste. Aber daß hier ein fremder Eindringling es wagte, ihr Unhygiene vorzuhalten und mangelnde Sauberkeit – das hatte ihr noch keiner geboten! Darüber war sie zutiefst empört und gekränkt  Die Erschütterung über eine solch unverschämte, ehrabschneidende Unterstellung übertraf alles bisher Erlebte und wird diese arme Witwe noch lange plagen.

Ich aber, ihr Erbneffe Corbinian, habe mich wohl gehütet, sie in ihrer begreiflichen Erregung zu bremsen. Im Gegenteil: Ich habe ihren Ärger unterstützt und sie ermuntert, ihm ordentlich freien Lauf zu lassen. Raus damit! Das bedeutet zwar für uns: Diese Begebenheit werden wir noch oft zu hören bekommen. Aber jedesmal wird’s ihr dann ein bißchen besser gehen.

Und darum: Jawohl, Mensch – ärgere Dich!!! Es hilft. Vielleicht nicht immer. Aber manchmal eben doch.

Bis bald mal wieder

Corbinian Wagenseyl

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

15 − elf =